„Der Westen wird kollabieren“

„Der Westen wird kollabieren“

Amerika, Liberalismus, Multikulti und Menschenrechte: Der russische Politologe Prof. Alexander Dugin im Gespräch mit ZUERST!

Herr Prof. Dugin, kein gesellschaftspolitisches Modell scheint heute erfolgreicher zu sein als das westlich-liberale. Amerika – genauer die USA – sind das große Vorbild. Was macht den Amerikanismus so erfolgreich?

Dugin: Die amerikanische Kultur hat ja geradezu einen mythischen und endzeitlichen Charakter. Sie sieht sich selber sozusagen als den finalen Punkt der Moderne an. Nach ihr kann nichts mehr kommen. Sie sieht sich selber als die kulturelle Perfektion. Dieses Selbstbewußtsein strahlt die amerikanische Kultur aus.

Welche Werte vertritt die westlich-liberale Welt mit dem Zentrum USA?

Dugin: Sie steht für die Moderne. Und die steht für Individualismus, Materialismus und Rationalismus. Sie steht für einen Sieg der Technologie und des Körpers über die Seele und den Geist. Im westlich-liberalen System herrscht der Pragmatismus. Das amerikanische Gesellschaftsmodell sieht sich als die Perfektion all dieser Elemente, als Spitze der Menschheit. Alle menschlichen Probleme seien mit dem Erreichen dieser Entwicklung gelöst. Nun geht es nur noch darum, dieses Modell auch weltweit umzusetzen, damit alle Menschen an dieser Perfektion teilhaben können. Es hat also einen universalen Anspruch. Dieses Portfolio an Werten, Formen und Technologien hat eine sehr überzeugende und auch siegessichere Ausstrahlung. Und das macht dieses Modell für viele Menschen zunächst so attraktiv.

Die USA sind sozusagen das „gelobte Land“ des westlichen Liberalismus?

Dugin: Absolut! Dieser Begriff paßt. Denn die westlich-liberale Zivilisation ist ja zutiefst messianisch ausgerichtet. Sie sieht sich sozusagen als Erlöserin der Menschheit. Neben ihr kann und darf es nichts geben. Dies können wir vor allem auch in Europa beobachten.

Trotzdem wollen sich bislang nicht alle der westlich-liberalen Zivilisation anschließen…

Dugin: Nein, weil man diese auch durchaus anders wahrnehmen kann: Als eine bestimmte Variante eines Wertekanons, dem man zustimmen oder den man auch zurückweisen kann. Als Option sozusagen. Die islamische Welt will sich dem amerikanischen Weg nicht anschließen, genauso wenig wie China und traditionelle Gemeinschaften insgesamt. Auch die russische Gesellschaft, geprägt von der traditionellen Orthodoxie, steht dem westlichen Gesellschaftsmodell skeptisch gegenüber.

Der universale Anspruch gehört aber zur westlich-liberalen Ideologie?

Dugin: Das ist genau der Punkt. Die USA und Europa sind sozusagen heute die westlich-liberale Avantgarde, Hort des Liberalismus und der Ideologie der Menschenrechte. All diese Inhalte sind eben nicht regional einzugrenzen. Das ist aber nur die Eigensicht des Westens. Für die anderen gesellschaftlichen Systeme stellt die westliche Welt allenfalls eine Variante dar. Vor allem in den bereits von mir genannten Kulturkreisen – in der islamischen Welt, China, Rußland, aber auch in Indien, Afrika, Südostasien und Südamerika – ist man eben nicht bereit, das westliche Wertesystem zu übernehmen. Sie sehen also den Konflikt: Während der Westen sich selbst als das Ziel der menschlichen Entwicklung sieht, dem alle anderen früher oder später folgen werden oder sogar sollen, gilt er woanders eben als die nordamerikanische und europäische Wertevariante.

Die USA und Europa sind aber durchaus unterschiedlich…

Dugin: Absolut richtig. In einigen europäischen Staaten wurde die amerikanische Kultur willkommen geheißen, andere wiederum wehren sich dagegen. Auch davon hängt vieles für die Zukunft des Westens ab. In gewisser Weise steht Europa am Scheideweg.

Inwiefern?

Dugin: Die Frage ist doch: Sieht Europa die USA sozusagen als das perfekte Zukunftsmodell, oder findet man dort seinen eigenen Weg, die Moderne und die sogenannten „westlichen Werte“ zu verkörpern? Beides scheint heute möglich.

Und was ist beispielsweise mit Rußland?

Dugin: Für mich als Russe stellt sich diese Frage überhaupt nicht. Die Situation ist klar: Die USA stehen für das schlimmste vorstellbare Gesellschaftsmodell überhaupt, denn es betreibt die absolute Entartung der menschlichen Würde. Die Mehrheit der Russen ist in der Frage mit mir einer Meinung. Vielleicht ist es sogar vielen gar nicht so bewußt, aber es gibt ein starkes Gefühl der Abneigung gegenüber dem westlich- liberalen Modell. Und das Gefühl sagt: Es stimmt etwas nicht mit dem Westen, nicht nur mit den USA oder Europa, sondern mit dem gesamten westlichen Wertekanon.

Zum „westlichen Wertekanon“ gehört unter anderem auch der Multikulturalismus, der sowohl in den USA als auch in Europa propagiert wird. Die USA gelten als das große multikulturelle Vorbild…

Dugin: Das Konzept des Multikulturalismus ist ein gutes Beispiel. Es verdient eine genaue Analyse. Zunächst – der gesamte westliche Wertekanon ist ein sehr harter, auch wenn er sich nach außen als weich darstellt. Dieser Kanon basiert auf festen und unumstößlichen anthropologischen Annahmen. Das Individuum steht absolut für das menschliche Wesen. In anderen Kulturen ist das nicht so. Dort spielen ethnische, kul kulturelle oder religiöse – also kollektive – Identitäten für die Persönlichkeit eine weit wichtigere Rolle als das pure Individuum. Im Westen sieht man den Menschen als Individuum. Das ist ein wichtiges absolutes Gesetz in der westlichen Welt. Der Westen akzeptiert keine andere anthropologische Annahme daneben. Alle anderen Annahmen werden als reaktionär, konservativ und rückschrittlich bezeichnet oder gar mit dem Menschenrechts-Argument bekämpft. Man kann dieses Gesetz daher durchaus als „totalitär“ bezeichnen.

Was bedeutet das praktisch?

Dugin: Wenn Sie die Sphäre der westlichen Welt betreten, gilt dieses Gesetz. Frankreich ist ein besonders radikales Beispiel hierfür: Es bleibt nur die Möglichkeit, sich zu integrieren oder gar zu assimilieren. Jeder Migrant, jede Minderheit hat dies zu befolgen. Und in Europa kann man dies vor allem in Frankreich beobachten: Egal wer aus welcher Ecke unserer Erde nach Frankreich kommt und dort lebt, ist kein Araber, kein Moslem, kein Christ, kein Chinese und kein Hindu mehr, sondern nur noch ein individueller Bürger.

Und in den USA?

Dugin: In den USA kann man eine etwas andere Variante beobachten, die man als multikulturalistisch bezeichnen kann. Die USA sind die „Nation der Einwanderer“. Auch dort gilt das Gesetz des Individualismus. Allerdings reicht es dort, wenn Repräsentanten einer Einwanderergemeinde einer kulturellen, ethnischen oder religiösen Gruppe dieses Gesetz sozusagen akzeptieren und ihm nicht widersprechen. Man kann durchaus von einer gewissen To leranz gegenüber den Einwandererkulturen sprechen. Diese gilt aber nur für den, der sich den einfachen, aber sehr strengen Grundprinzipien des west lichen Wertekanons unterwirft. Dann kann er sogar innerhalb der USA seine eigenen kleinen Gemeinschaften bewahren. Inter essanterweise versuchen die europäischen Staaten, den Multikulturalismus der USA zu imitieren.

Die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel…

Dugin: Richtig, das Problem aber ist, daß die europäischen Staaten gesellschaftlich meist wesentlich komplexer sind als die USA. Das bringt natürlich Spannungen und Probleme. Europa tut sich auch schwerer damit, die simplen Gesetze Amerikas einfach so zu übernehmen. Die Europäer sind vielschichtiger, auch flexibler. Europa hat viele verschiedene Traditionen, es ist ein Kulturkontinent. Die US-Gesellschaft ist im Vergleich zu Europa absolut primitiv, barbarisch einfach. Es ist eine geradezu schwachsinnige Gesellschaft. Man muß nur einigen sehr einfachen Regeln folgen, um dazuzugehören. Solche Regeln sind für die dümmsten Menschen der Welt konzipiert. Die US-Gesellschaft ist im besten Sinne des Wortes eine „idiotische“ Gesellschaft.

Kritiker werden Ihnen vorwerfen, Sie würden die US-Amerikaner wüst beschimpfen!

Dugin: Ich meine das nicht als Beschimpfung, das ist eine Analyse. Der Begriff „Idiot“ kommt vom griechischen „idiotes“. Ursprünglich bezeichnete man damit Menschen, die nur für sich selber stehen – für eine Person ohne ethnische, religiöse, familiäre Bindungen. Er steht für den Menschen ohne kollektive Identität und ohne Geschichte. Die amerikanische Gesellschaft ist daher – ganz wertfrei – absolut idiotisch im eigentlichen Sinn des Wortes. Und für Europa gilt das eben nicht. Obwohl dort die westlich-liberalen Gesetze herrschen, sind dort nach wie vor soziale, ethnische, religiöse Identitäten vorhanden, die ein hochkomplexes System ergeben. Daher mag der primitive Multikulturalismus in den USA in gewissen Grenzen vielleicht sogar funktionieren, im europäischen Bereich sind aber Konflikte bereits vorprogrammiert – es sei denn, man macht es so rigoros wie in Frankreich. Aber selbst dort kommt es immer wieder zu ethnischen Konflikten. Aber letzten Endes sind das alles nur technische Fragen, also, auf welche Art und Weise man das Ziel erreicht. Denn das westlich- liberale System ist gar nicht in der Lage, ein anderes System als gleichberechtigt anzuerkennen. Es wird immer versuchen, zu bevormunden, umzuerziehen, zu integrieren und zu assimilieren.

Deutsche „Integrationspolitiker“, die sich positiv auf den Multikulturalismus beziehen, behaupten immer wieder, sie würden „die andere Kultur“ anerkennen…

Dugin: Ich halte das für „multikulturelle Rhetorik“. Denn wer tatsächlich die Verschiedenartigkeit der Ethnien, Kulturen und Religionen anerkennt, wer für einen menschlichen Pluralismus eintritt, gilt schnell als Rassist, als Anti- Demokrat. Denn damit bewegt er sich außerhalb des westlich-liberalen Konsenses.

Ist in Wirklichkeit nicht die Nichtanerkennung der Verschiedenartigkeit von Ethnien, Kulturen und Religionen rassistisch?

Dugin: Nicht nur das. Sie ist zudem auch totalitär. In Wirklichkeit passen das westliche Wertesystem und der Pluralismus überhaupt nicht zusammen. Der westliche Liberalismus ist imperialistisch und zutiefst kolonialistisch – und im wahrsten Sinne des Wortes rassistisch.

Die Bemühungen des Westens scheinen nicht mehr so erfolgreich zu sein wie früher. Während es in den USA immer wieder zu Rassenunruhen kommt, gibt es auch in Europa zunehmend eth nische Konflikte. Woran liegt das?

Dugin: Diese Beispiele zeigen, daß man durch das Ignorieren von ethnischen Unterschieden diese nicht beseitigt. Nur weil man aus ideologischen Gründen die Existenz der Verschiedenartigkeit der Ethnien leugnet, verschwinden diese nicht einfach. Sie sind immer noch da. Und in solchen Konflikten zeigt sich, wie wenig die anthropologischen Grundannahmen des Westens eigentlich taugen. Doch die Reaktion auf solche unvermeidlichen Zusammenstöße ist nicht etwa, daß man diese falschen Grundannahmen korrigiert, sondern daß man diese mit noch mehr Druck durchzusetzen versucht.

Wie zum Beispiel?

Dugin: Man bemüht das komplette Arsenal von Sprachregeln und Gesetzen. Man nennt einen Schwarzen nicht mehr schwarz oder einen Araber nicht mehr Araber. In den Medien wird beispielsweise bei Konflikten auf die Nennung von ethnischen Zugehörigkeiten verzichtet, man verschweigt sie aus ideologischen Gründen. Doch davon werden diese Konflikte ja nicht weniger, sie werden nur vernebelt. Es wird sozusagen eine soziologische Ebene projiziert, die gar nicht existiert, man blendet die Realität aus. Das ist ein großes Problem.

In den USA werden diese westlichen Prinzipien vor allem von den Nachfahren der weißen, protestantischen, angelsächsischen Einwanderer vertreten…

Dugin: Das ist richtig. Die USA sind sozusagen das Herzland der Theorien des englischen Aufklärers John Locke. Seine politische Philosophie beeinflußte die Unabhängigkeitserklärung der Ver einigten Staaten, die Verfassung der USA, die Verfassung des revolutionären Frankreichs und über diesen Weg die meisten Verfassungen liberaler Staaten maßgeblich. Locke formulierte bereits den universalen Anspruch seiner aufklärerischen Gedanken. Es ist also eine angelsächsische Idee, die aber nie so bezeichnet wurde. Diese angelsächsische Idee steht heute sogar in ihrem Herzland unter Druck.

Warum unter Druck?

Dugin: Das hat vor allem demographische Ursachen. Die schwarze Bevölkerung wächst, die Gruppe der Lateinamerikaner wird immer größer und die der europäischen Amerikaner, zu denen vor allem auch die Angelsachsen gehören, schrumpft immer weiter. Zwar spielt die demographische Zusammensetzung einer Gesellschaft in der Ideologie des Westens keine Rolle, in der Realität aber sehr wohl, wie wir beobachten können. Vor allem an den Konfliktlinien, die heute immer wieder aufreißen. Diese Situation kann bedrohlich werden, weil sie zum Zusammenbruch der USA führen kann. Das Land könnte in mehrere unterschiedliche Entitäten zerfallen. Die westlich-liberale Gesellschaft ist nämlich keineswegs so stark, wie sie es selber propagiert. Die USA könnten explodieren. Europa übrigens auch. Auch dort sieht man die demographischen Konfliktlinien und daß die westlich-liberalen Systeme viel schwächer sind, als sie behaupten.

Herr Prof. Dugin, kann man sagen, daß die Leugnung der Realität die Basis des westlich-liberalen Systems ist?

Dugin: Absolut. Daraus leitet sich alles ab. Das gesamte Gesellschaftsmodell fußt auf der Annahme, daß der aufgeklärte, weiße Mensch europäischer Herkunft das Vorbild für die gesamte Menschheit ist. Alle anderen Formen von Gesellschaften werden ignoriert oder als minderwertig befunden. Der gesamte Reichtum an Verschiedenartigkeit der Menschheit – die Realität ist – wird ignoriert. Daraus erklärt sich die imperialistische Natur des westlichliberalen Systems, welches sich als eine Art Befreiungsmodell für die gesamte Menschheit inszeniert. Doch das geradezu Ironische an dieser Situation ist, daß der Westen genau wegen dieser Ignoranz früher oder später kollabieren wird. Die Menschheit ist einfach zu groß, zu reich, zu unterschiedlich, als daß sie sich von dieser relativ kleinen Gruppe mit dieser angelsächsischen Idee unterwerfen lassen würde. Der universale Anspruch läßt sich nicht durchsetzen, daran wird der Westen letztendlich scheitern müssen. Und ein solches Scheitern führt automatisch zur Sinnkrise, die auch nach innen wirken wird.

Da in den Augen des Westens beispielsweise keine ethnischen Unterschiede existieren, sind diese für ihn also auch keine Gefahr?

Dugin: Richtig. Aber die Gefahr ist real – eben sogar innerhalb des Westens. In dem Moment, wo die westliche Gesellschaft diese Gefahr sieht und reagieren muß, wird diese damit auch anerkannt. Und mit der Anerkennung fällt automatisch eine der wichtigsten Grundannahmen westlich-liberaler Gesellschaften, der reine Individualismus, in sich zusammen. Das System ex- und implodiert. Plötzlich braucht es dann nämlich ganz neue Erklärungsansätze. Und das gilt übrigens nicht nur für die ethnischen Unterschiede, sondern bereits bei der Unterschiedlichkeit von Mann und Frau. Auch dort stößt der Individualismus, der den Menschen einreden möchte, es gäbe im Prinzip gar keine unterschiedlichen Geschlechter, sondern nur „sozial erlernte Unterschiede“, an seine Grenzen. Jeder weiß und sieht, daß es nicht so ist – und trotzdem kämpfen die westlich-liberalen Gender-Ideologen dagegen an. Der letzte konsequente Schritt in dieser Ideologie ist übrigens das völlige Abstreifen des Menschlichen. Und auch das können wir bereits beobachten: Die Menschen im Westen werden immer mehr zu einem numerischen System, in der Wirtschaft blähen sich fast entmenschlichte Fonds und „Finanzprodukte“ auf, keine wirklichen Unternehmen mehr. Vorerst scheint der Westen allerdings noch auf Expansionskurs.

Warum kommen eigentlich der Freie Markt und die Menschenrechte meist im Doppelpack in jene Gebiete, die vom Westen entweder in Form von Nicht-Regierungs- Organisationen (NGOs) oder eben auch Kriegen „erschlossen“ werden?

Dugin: Beide Begriffe gehören zusammen. Sie sind die beiden Seiten der gleichen Medaille – übrigens bereits bei John Locke gehörten Marktliberalismus und Individualismus zusammen. Der Freie Markt ist sozusagen die wirtschaftliche Übersetzung des Individualismus. In der geradezu religiösen Überhöhung des Privateigentums zeigt sich der westliche Individualismus voll und ganz. Das Privateigentum soll völlig bindungsfrei sein, keine Verpflichtungen enthalten – wie das Individuum. Die Menschenrechte – man muß in diesem Zusammenhang auch von einer Quasireligion sprechen – sollen das soziale Umfeld für dieses Privateigentum schaffen. Denn die Ideologie der Menschenrechte enthält ja wiederum den gesamten westlich-liberalen Wertekanon. Daher kommen beide bei den westlichen Expansionsbestrebungen stets im Tandem. Beide streben die totale Atomisierung der Gesellschaft an. Beim Eroberungszug des Westens sind der Freie Markt und die Menschenrechtsideologie die beiden Schneiden der Klinge des Schwertes. Aber auch hier stößt das westlich-liberale System wieder an seine Grenzen. Denn im Gegensatz zur eigenen Propaganda existieren sehr wohl andere taugliche Modelle der Wirtschaft und der Selbstorganisation.

Zum Beispiel?

Dugin: Es gibt eine Vielzahl von Beispielen und Kombinationen. Schauen wir doch mal nach China. Dort bildet die Nation das Subjekt und nicht etwa das Individuum. Das ist keine Erfindung des chinesischen Kommunismus, wie man im Westen gerne sagt, sondern geht weit in die Geschichte zurück. Die traditionelle chinesische Kultur kennt keinen Individualismus und lehnt diesen ab. Gleichzeitig beobachten wir aber auch einen relativ freien Markt. In anderen Regionen der Erde herrschen wieder ganz andere kulturelle Vorstellungen. Man denke nur einmal an Indien, die islamische Welt oder auch Süd amerika. Wir sehen dort eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Organisationssysteme. Die Welt ist eben viel komplexer und komplizierter als es sich die westlich-liberalen Chefideologen vorstellen. Daher kann der Feldzug des Westens nur scheitern. Denn er richtet sich gegen die menschliche Natur. Doch das Problem des Westens ist: Er muß wachsen, er muß sich ausbreiten. Er kann nicht damit aufhören. Das Wachstum ist sozusagen im genetischen Code der westlich-liberalen Gesellschaft angelegt. Und damit auch automatisch ihr Untergang und Verschwinden.

Der Westen „wächst um sein Leben“?

Dugin: Ja. Die USA können gar nicht anders. In dem Moment, wo sie ihre Hegemonialbestrebungen einstellen, kollabieren sie. Die Option, einfach mit der Ausbreitung aufzuhören, gibt es nicht. Es gilt nur: Alles oder nichts. Ersteres ist sehr unwahrscheinlich.

Wird dieses Wachstum deshalb auch mehr und mehr kriegerisch vorangetrieben?

Dugin: Absolut! Wir erleben, wie die USA, das Kernland des Westens, immer hysterischer werden. Denn es geht eben nicht nur um Ausbreitung sondern vor allem um den Kampf ums eigene Überleben – so paradox das auch klingt. Und wo sich die Hegemonialbestrebungen nicht friedlich umsetzen lassen, wird Krieg geführt. Wir haben eine ganze Reihe solcher Kriege erlebt: gegen Afghanistan, Irak, Serbien, Libyen und Syrien. Aber auch innerhalb des Westens wird immer mehr aufgerüstet: Kameraüberwachung, die Angst vor Terrorismus und Aufständen. Wir beob achten die Konflikte in der EU, die Krawalle auf den Straßen Athens – und dann sehen wir, was dem Westen noch alles blühen kann. Diesen Krieg kann er nicht gewinnen.

Wenn das westlichliberale System tatsächlich kollabiert – was bedeutet das für Europa? Finden wir wieder „zu uns“ zurück?

Dugin: Europa befindet sich heute sozusagen am Rande des Abgrunds. Ich glaube nicht, daß die politische Konstruktion Europas das Ende des Westens überleben kann. Europa hat eine große Zukunft, aber es wird ein anderes Europa. Als Europa der Tradition, der vielen unterschiedlichen Völker, Sprachen, Kulturen und auch Religionen kann der Kontinent wiederauferstehen. Ich bin mir sicher, daß im Moment des Kollapses die Europäer merken werden, daß sie sozusagen einer westlich-liberalen Fatamorgana aufgesessen sind. Bereits heute gibt es viele unterschiedliche Kreise in Europa, die dieses „andere Europa“ verfolgen. Sie stehen nicht dem westlichen Liberalismus nahe, sondern lehnen ihn ab. Das sind die Keimzellen des neuen Europa. Im Moment des Kollapses, wenn die alten westlich-liberalen Eliten abgewirtschaftet haben, werden aus diesen Kreisen die alternativen Ideen kommen, wie es weitergeht. Ich bin da absolut optimistisch. Europa wird den westlichen Zusammenbruch zwar in seiner heutigen Form nicht überleben – aber es wird wiederauferstehen.

Herr Prof. Dugin, Dugin, vielen Dank für das Gespräch