APOPHATISCHE TRADITION: DIE THEOLOGIE VON DIONYSIUS DEM AREOPAGITEN

Das Werk jenes berühmten Christlichen Theologen und Mystikers, dessen Schriften unter dem Namen Dionysius der Areopagit in die Christliche Tradition eingegangen sind, stellt in der Geschichte des philosophischen und religiösen Denkens ein einzigartiges Phänomen dar. Er übte enormen Einfluss auf die Gesamtheit der Christlichen Philosophie, des Ostens und des Westens, aus und im Zuge dessen, auf die eine oder andere Weise, ebenso auf das philosophische Denken der Neuzeit seit dem Mittelalter, in welchem die Areopagiten eine dermaßen wichtige Rolle einnahmen.

Fast alle Kenner des Corpus Areopagiticum sind sich darin einig, dass dieser den Platonismus in Christlicher Form darstellt. Folglich müssen wir ihn auch in den umfassenderen Kontext der platonischen Philosophie stellen, um seine Position zu verstehen und seine Eigenschaften zu untersuchen.

Es ist nachgewiesen, dass es die Areopagiten seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. gegeben hat. Damit sind sie durch gut 10 Jahrhunderte von Platon selbst, wie auch von seiner Akademie, getrennt. In dieser Zeitspanne hatte der Platonismus eine Reihe von tiefgreifenden Verwandlungen, Institutionalisierungen und Re-Interpretationen durchgemacht, welche man sich auf der allgemeinsten Ebene bewusst machen muss, um die historisch-philosophische Entwicklung von Platon (5. – 6. Jh. v.Chr.) zu den Areopagiten (5. Jh. n.Chr.) verstehen zu können.

Diese Zeitspanne lässt sich in drei Phasen unterteilen:

(a) Die Nachplatonische Akademie (Speusippos, Xenokrates, etc.), von welcher wenige zuverlässige Überlieferungen bestehen, und deren philosophische Bestimmung sich heute aufgrund dessen besonders schwierig gestaltet;

(b) Der Mittelplatonismus (Poseidonios, Plutarch von Chaironeia, Apuleius, Philon);

(c) Der Neuplatonismus, welcher in Alexandria aufkam und sich von Beginn an in zwei Schulen unterteilte: Die heidnische (Plotin, Porphyrios, etc.) und die Christliche (Clemens von Alexandria, Origenes, etc.)

„Die Areopagiten stehen dem Neuplatonismus nahe und ihre Besonderheit liegt gerade darin, dass sich bei ihnen gleichzeitig Einflüsse beider Strömungen des Neuplatonismus finden lassen – Die origenistische (welche außerdem indirekt die dogmatische Basis des Christentums mitbestimmt hat) und die heidnische (welche im 5. Jahrhundert durch das monumentale philosophische und theologische System des Proklos Diadochos verkörpert wurde, der den beispiellosen Versuch unternahm den Platonismus in seiner Gesamtheit zu systematisieren).“

Im Allgemeinen dürfen wir die erste Phase als Weiterführung von Platons Paideia ansehen, gemäß der Richtung, welche von Platon selbst vorgesehen war: Als Verfeinerung des philosophischen Diskurses und der hermeneutischen Praxis nach Platons eigenem Zugang, ohne eine Richtung zu bevorzugen und ohne wesentliche Versuche die platonische Lehre zu systematisieren.

Mit der zweiten Phase begann eine Systematisierung, welche zum Erkennen der Knotenpunkte seiner
Lehre führte, einschließlich dem Erkennen von Widersprüchen, undurchsichtigen Teilbereichen und gegensätzlichen Interpretationen. Dabei ist es für uns höchst wichtig, dass Platons Lehre hierdurch zum

ersten Mal mit theologischem Wissen verknüpft wurde, d. h. dass man sie theologisierte. Selbiges lässt sich zuallererst im Werk Philons von Alexandria ausmachen, welcher versuchte Platons Philosophie und Kosmologie aus dem Timaios und der Republik mit der Religion des Alten Testaments und ihrer Dogmatik – insbesondere in Bezug auf Gott als Schöpfer, den Monotheismus, etc. – also mit der alttestamentarischen Theologie überhaupt zu verknüpfen. Hier zeigt sich zum ersten Mal die Problematik des Verhältnisses zwischen platonischen Ideen und platonischen Halbgöttern, wie auch des Verhältnisses derselben zum personalisierten Gott des jüdischen Monotheismus. Daran anschließend übte Philon auch enormen Einfluss auf die Entstehung der Christlichen Dogmatik aus, und folglich nahm der Zusammenhang zwischen dem Platonismus und der Theologie in seiner Philosophie eine fundamentale Bedeutung für alles Folgende an.

Nach Philon wurden die Christlichen Gnostiker (vorranging Basilides) zu einem wichtigen Bindeglied für die Entwicklung des Platonismus. Viele unter ihnen sind durch Platon maßgeblich beeinflusst worden, wie Plotin es etwa in den Enneaden II.9. umfassend wiedergegeben hat. Die Gnostiker aber lasen Platon bereits durch die Linse des Mittelplatonismus, insbesondere gemäß den Schriften Philons, wie auch im Kontext des frühen Christentums mit seinen spitzfindigen Betrachtungen des Verhältnisses vom Neuen Testament und der Zeit der Gnade zum Alten Testament und der Zeit des Gerichtes. Bei den Gnostikern führte dieses Verhältnis zu einem Antagonismus, der in Dualismus mündete. Dabei ist es für uns zentral, dass dieser Dualismus von der platonische Philosophie umrahmt wird. Demgemäß darf der Christliche Gnostizismus als eine bestimmte, dualistische Form des Platonismus verstanden werden.

Als dritte Stufe dieser Bewegung, welche direkt zum Verfasser der Areopagitica führte, waren die Schulen Plotins und des Origenes, d. h. des Neuplatonismus im engeren Sinne, eine Auswirkung der Weiterentwicklungen des Mittelplatonismus, und zu einem großen Teil auch eine Reaktion auf den dualistischen Platonismus der Gnostiker. Nicht nur Clemens von Alexandria und Origenes, sondern auch Plotin polemisierte gegen die Gnostiker, und diese Ablehnung des Gnostizismus führte sie dazu einen dialektisch-systematischen Platonismus zu entwickeln, welcher sich den Aufgaben der Theologisierung und des Dualismus, den Eigenschaften der Mittelplatonisten und Gnostiker, stellte, aber ihnen auf eine entschieden nicht-dualistische Weise antwortete. Der hinduistischen Philosophie einen Begriff entlehnend, wäre es angemessen den Neuplatonismus als ‚Advaita-Platonismus‘ zu bezeichnen, d. h. als nicht-dualen Platonismus.

Die mystische Theologie der Areopagitica lässt sich gänzlich im Kontext dieses nicht-dualen Platonismus verorten und kann als bemerkenswertes Beispiel desselben gelten, wenn auch in weniger systematischer und nicht so weit entwickelter Weise als bei Origenes oder Proklos. Gleichzeitig markierte das 5. Jahrhundert eine Zeit in der die Dogmatik, welche die vorangehenden Jahrhunderte der Griechisch-Römischen Patristik bestimmt hatte, abnahm, was bereits auf die folgende Periode des Christlichen Mittelalters hindeutete. Form und begriffliches Instrumentarium der Areopagitica waren dieser Übergangszeit, in bestmöglicher Weise, angemessen: Sie vollendete einerseits das Zeitalter des Neuplatonismus, andererseits das der Griechisch-Römischen Patristik, und war daran beteiligt eine der wichtigsten zukünftigen Entwicklungen im Christlichen Denken vorzubereiten – einschließlich jener der transeuropäischen Scholastik, auf welche etwa Johannes Scottus Eriugena und Thomas von Aquin eine dermaßen große Einwirkung gehabt haben.

Übersetzt von Fabian Stummer