Die Grundlagen „Internationaler Politik"

Vorwort fur Buch "Konflikte der Zukunft"

Heute sprechen viele Politiker und Journalisten über„Internationale Beziehungen". Man könnte fast von einer Art Mode sprechen, die wieder en vogue ist. Während der Zeit der Blockkonfrontation des Kalten Krieges schienen Internationale Beziehungen das Vorrecht von Washington und Moskau. In der bipolaren Konkurrenz zwischen dem westlich-liberalen Block (NATO) auf der einen und der kommunistischen Sphäre (Warschauer Pakt) auf der anderen Seite war der Handlungsspielraum speziell Europas eingeschränkt, man könnte sogar sagen: gelähmt.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre hat sich das geändert. Eine Vielzahl von Konfliktzonen stand - für viele westliche als auch östliche Beobachter „plötzlich" - in Flammen: Es kamen der Zusammenbruch und der Krieg im früheren Jugoslawien in den 1990er Jahren, die Tschetschenienkriege, der Krieg gegen Serbien 1999 mit der Abtrennung der Kosovoprovinz vom serbischen Mutterland, die Kriege gegen Afghanistan und den Irak, der Georgienkrieg und die immer wieder aufflammenden bewaffneten Konflikte in Nahost. Diese Waffengänge überraschten all jene, die tatsächlich glaubten, mit dem Ende des Kalten Krieges trete die Welt in ein Stadium der unipolaren Stabilität ein.
Auch heute brennen gleich mehrere geopolitische Konfliktzonen lichterloh: Seit 2011 toben in Nordafrika und Nahost bewaffnete Konflikte nach dem sogenannten „Arabischen Frühling", Libyen und der Irak wurden sozusagen von der Landkarte gefegt. In Syrien führt die Regierung seit Frühjahr 2011 einen erbitterten Krieg gegen den Terrorismus. Und in der Ukraine tobt seit Frühjahr 2014 ein blutiger Konflikt.
Und am Horizont kündigen sich weitere bewaffnete Auseinandersetzungen an: Im Kaukasus brodelt es nach wie vor, in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten haben sich fanatische Terrorarmeen gebildet.
Wie konnte dies alles geschehen? Kündigte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seinem 1992 erschienenen und vielbeachteten Buch „Das Ende der Geschichte" nicht an, daß sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der von ihr abhängigen kommunistischen Staaten bald die Prinzipien des westlichen Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchsetzen würden? Die Welt als eine westlichliberale Wohlstandssphäre, in der der Freie Markt und die Menschenrechte tonangebend sind, war die Vision. In den USA sprach man bereits von „Weltinnenpolitik" anstatt von Außenpolitik. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Im Gegenteil: Es ist der Hegemonial- und Dominanzanspruch des Westens, der viele dieser Kriege erst eskalieren läßt.
Wie sieht die Welt heute tatsächlich aus? Es gibt in der Tat wieder zwei große politische Lager: Auf der einen Seite stehen die USA und ihre Verbündeten. Dazu gehören das sogenannte transatlantische Lager in Europa, aber auch einige Staaten im arabischen Raum wie beispielsweise Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar.
Europa ist sehr komplex, es gibt viele unterschiedliche Kulturen und auch verschiedene politische Strömungen. Allerdings scheint derzeit jene politische Strömung, die sich dem US-Hegemonialanspruch unterordnet, die dominante zu sein. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es gerade in Europa auch sehr viele politische und kulturelle Gegenbewegungen dazu gibt. Und es gibt natürlich nach wie vor Länder in Europa, die sich mit der US-Hegemonie ganz und gar nicht anfreunden wollen - wie beispielsweise Serbien. Dennoch: All die Staaten, die sich der „transatlantischen Wertegemeinschaft" zugehörig fühlen, orientieren sich klar in Richtung Washington. Auch die Bundesrepublik Deutschland tut das.
Diesem westlichen Bündnis steht eine Vielzahl souveräner Staaten gegenüber, die weder durch eine gemeinsame Führung noch durch eine gemeinsame Ideologie geeint sind. Sie verfolgen nicht einmal eine gemeinsame, kohärente Strategie. Ihr Handeln ist dadurch gekennzeichnet, daß sie stets reagieren, wenn der westliche Hegemonialanspruch auf sie übergreift. Dann verteidigen sich diese Staaten. Die Tatsache, daß diese Staaten weder ein gemeinsames Konzept noch eine einigende Idee aufweisen können, läßt sie im Vergleich zum Westen als schwach erscheinen. Dem gegenüber steht der Westen mit seiner ultraliberalen Ideologie, einer von allen westlichen Staaten anerkannten Führungsrolle der USA sowie einem gemeinsamen Verteidigungsbündnis. Durch die Europäer ist dieses Bündnis wirtschaftlich potent, es ist gut organisiert und dadurch in der Lage, seine Interessen mit Nachdruck zu verfolgen.

Wir haben auf der einen Seite eine Ideologie - basierend auf postmodernen Werten und dem Freien Markt -, eine Führungsmacht sowie eine gemeinsame Strategie, und auf der anderen Seite haben wir lediglich eine Ansammlung unabhängiger, souveräner Staaten - darunter auch Rußland und China -, die weder eine Ideologie noch eine gemeinsame Strategie eint.
Westliche Intellektuelle, Politiker und Journalisten scheinen sich einig: Dem globalen Dominanzanspruch des Westens könne man kaum etwas entgegenstellen - es gehe ausschließlich darum, diesen Anspruch inhaltlich zu gestalten. „Globalisierung" sei - je nach politischer Lobbygruppe - liberaler oder eben sozialer umzusetzen. Doch der Anspruch der westlich dominierten „Weltinnenpolitik" bleibt davon insgesamt unberührt.
Die heutigen Nationalstaaten sollen in eine Art „globalen Staat" mit einer einheitlichen administrativ-ökonomischen Grundordnung überführt werden. Aber der Glaube, alle Nationen, sozialen Klassen, Kulturen und Wirtschaftsmodelle würden plötzlich auf der Basis dieser neuen Weltordnung miteinander kooperieren, ist falsch. Globalisierung meint in diesem Zusammenhang stets eine eindimensionale Entwicklung, die den westlichen Standard universalisiert. Diese Uni- versalisierungsbestrebungen werden häufig von Unterdrük- kung und Gewalt begleitet.
Heute ist diese Idee einer westlich dominierten, unipolaren Welt nichts weiter als ein ambitioniertes Projekt, ein Plan oder gar ein „Trend". Die Idee ist außerordentlich gefährlich, aber sie ist keineswegs von Erfolg gekrönt. Überall in der Welt wird Widerstand geleistet - sogar im westlichen Machtbereich selbst, in Europa, erstarken jene Bewegungen, die sich dieser westlich-liberalen Idee nicht bedingungslos unterordnen wollen. 

Diesem unipolaren Konzept stellen wir das entgegen, was wir die „Eurasisehe Idee" nennen: Diese Idee orientiert sich nicht - auch wenn der Name dies zunächst vermuten läßt - streng an geographischen Grenzen. Die Eurasisehe Idee bietet ein Alternativkonzept zur Globalisierung, das für die Welt verschiedene globale Zonen (Pole) vorsieht - im Gegensatz zum unipolaren Weltbild des liberalen Westens ist es also ein multipolares System. Die Eurasisehe Idee verbindet in sich alle verschiedenen globalisierungskritischen Ansätze.
Der Eurasianismus lehnt das westliche Weltbild, wonach der Planet in ein Zentrum (Angelsächsische Welt und Europa) und abgelegene Außengebiete (Südamerika, Afrika, Asien) gegliedert ist, strikt ab. Statt dessen sieht die Eurasi- sche Idee die Welt als eine Sammlung gänzlich verschiedener politisch-kultureller und wirtschaftlicher Lebensräume, die miteinander korrespondieren. Dabei handelt es sich nicht um klassische Nationalstaaten sondern um Bündnisse, die als kontinentale Allianzen oder eben „demokratische Imperien" organisiert sind. Jeder dieser Großräume gestaltet seine politisch-kulturelle Verfaßtheit auf der Grundlage eines eigenen Systems von ethnischen, kulturellen, religiösen und administrativen Faktoren.
Die westliche Welt wird das Aufkommen einer Konkurrenzidee nicht widerstandslos hinnehmen. Uns steht daher in Zukunft eine Vielzahl neuer Stellvertreterkonflikte bevor. Wo immer sich ein Staat, eine Gesellschaft, eine Kultur oder eine Religion weigert, sich dem westlich-liberalen Dominanzanspruch zu unterwerfen, werden wir Konflikte - meist in Form von Stellvertreterkriegen - zu erwarten haben.
An Brennpunkten fehlt es bereits heute nicht. Nordkorea könnte in der Zukunft Schauplatz eines solchen „Proxy-War" werden, auch wenn der Ausgang nicht unbedingt weichenstellend für die eine oder andere Seite wäre. Anders sieht es da im Nahen und Mittleren Osten aus. Sollte beispielsweise Syrien fallen, bricht dem Iran sein wichtigster Verbündeter in der Region weg. Das nächste Ziel westlicher Attacken wäre daher Teheran. Denn die Islamische Republik Iran ist in den Augen Washingtons ein erheblicher Störfaktor in der Region. In Teheran hat man sich in der Vergangenheit erfolgreich westlichen Einmischungsversuchen in innere Angelegenheiten widersetzt. Dort pocht man auch auf seine Eigenständigkeit und weist die Hegemonialansprüche des Westens zurück. Zudem unterstützen die sunnitisch-arabischen Monarchien - wie beispielsweise Saudi-Arabien und Katar - Washington, denn die schiitische Republik des Iran wird als lästiger Konkurrent um die Rolle der islamischen Führungsmacht in der Region angesehen.

Ein bewaffneter Konflikt im Iran könnte sich leicht zum Weltenbrand auswachsen: Denn ein direkter militärischer Angriff auf den Iran würde sowohl in Moskau als auch in Peking als aggressiver Akt gegen die Interessen Rußlands und Chinas interpretiert werden. Daran lassen diese beiden Länder keinen Zweifel. Ein Krieg von vergleichsweise niedriger Intensität, wie wir ihn im Irak, in Afghanistan oder jetzt in Syrien erleben, könnte deshalb schnell zu einem Krieg mittlerer oder gar hoher Intensität ausarten. Dann können wir von einem richtigen, absoluten Krieg sprechen. Ein Krieg gegen Teheran würde eine direkte militärische Beteiligung Rußlands und Chinas bedeuten - die Supermächte würden sich dann mit ihren Waffen gegenüberstehen und sich bekämpfen.
Dies könnte auch andere geopolitische Konfliktzonen erschüttern und (wieder) in Brand setzen, beispielsweise den Nordkaukasus. Sollte es dort wieder zu kriegerischen Stellvertreterkonflikten kommen, ist auch dort die Gefahr einer Eskalation real. Ein anderer Konfliktherd, der erst in den letzten Wochen wieder durch die Medien ging, ist Berg-Karabach. Der Westen unterstützt - über die Türkei - Aserbaidschan, während Rußland als Verbündeter Armeniens gilt. Auch dort könnte es daher zu einer direkten Konfrontation kommen, wenn die USA Aserbaidschan zu einem neuen Angriff auf die armenische Republik Berg-Karabach aufstacheln.

Während sich in Rußland und Osteuropa heute Analytiker und Politikwissenschaftler mit diesen Phänomenen intensiv beschäftigen, scheinen im Westen die meisten (etablierten) Beobachter, Journalisten und Politiker diese Zusammenhänge zu ignorieren. Das Verständnis für „Internationale Politik" ist in der westlichen Welt - auch und vor allem in der Bundesrepublik Deutschland - von einem hohen Grad einer fast religiösen Verehrung des westlich-liberalen Systems und an Naivität geprägt. In Berlin hat man sogar den westlich-liberalen Hegemonialanspruch offiziell zur Staatsräson erklärt, indem man den weltweiten Kampf für die „universalen Menschenrechte" als Ziel der deutschen Außenpolitik benannt hat - natürlich eingebunden in NATO und EU. In der etablierten europäischen Politikerklasse ist die Meinung verbreitet, die Interessen der USA und der EU seien nahezu identisch, daher brauche man erst gar keine eigenen europäischen außenpolitischen Ziele mehr zu formulieren. Eine solche für die europäischen Völker verhängnisvolle Entwicklung ist nur mit einer Ursache zu erklären: mit dem mangelhaften Verständnis für die Grundlagen „Internationaler Politik".