»Eine Negation der menschlichen Natur!«

Stimme: Die Strategie des »Great Reset« wird in globalistischen Eliten diskutiert. Diese fordert einen Neustart des Kapitalismus und des postliberalen Systems nach dem Scheitern in der Coronakrise. Was denken Sie über dieses neue Projekt zur Rettung der Globalisierung?

Dugin: Ich denke, dass es sich dabei nicht um eine neue Strategie, sondern nur um einen neuen Begriff der Globalisten handelt. In der Geschichte der Globalisierung stellt der Begriff »Reset« (Neustart) ein sehr interessantes Konzept dar. Der Inhalt ist derselbe wie bei der Neuen Weltordnung, der Globalisierung, der One World, dem Ende der Geschichte und der Propagierung ultraliberaler Werte. Der Inhalt des »Great Reset« unterscheidet sich nicht zu stark vom Inhalt der Globalisierung, aber wir müssen verstehen, dass die Globalisierung nicht nur ein technischer, geopolitischer oder politischer, sondern auch ein ideologischer Prozess ist, der verschiedene Ebenen miteinander vereint. Zum Beispiel bedeutet sie auch, dass jedes Land, jede Gesellschaft in einen Teil des Westens verwandelt wird, das ist sehr wichtig. Die Verwestlichung stellte einen wichtigen Teil der Globalisierung dar, denn sie stellt die Projektion der westlichen Werte und der westlichen Gesellschaft auf die ganze Menschheit dar. In der Globalisierung wird also der Westen zum Vorbild erhoben. Die zweite Ebene der Globalisierung besteht in einer Projektion der Modernisierung gemeinsam mit der Verwestlichung, das bedeutet, sie ist eine immerzu aktualisierte Fassung der westlichen Werte, nicht derselben westlichen Werte von gestern. Sie stellt den laufenden Prozess einer besonderen Verwandlung dar, den Wandel der westlichen Werte und ihres Paradigmas. Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Es handelt sich dabei um einen doppelten Prozess, der einerseits den Westen aktualisiert und andererseits die aktualisierte Version projiziert. Dabei handelt es sich um eine Art postmoderne Kombination des Westens und der Moderne. Die Modernisierung muss nicht nur auf die nicht-westlichen Gesellschaften angewandt werden, denn sie stellt auch einen Prozess im Inneren des Westens selbst dar. Die Globalisierung bestehtalso auch aus der Modernisierung. Die nächste Stufe muss eine ideologische Verschiebung innerhalb der liberalen Globalisierung sein, weil auch der Liberalismus ein Prozess ist und nicht der Glaube an etwas Stabiles, Ewiges, sondern die Idee, das Individuum von allen Formen der kollektiven Identität zu befreien.

Stimme: Wovon soll das Individuum denn befreit werden?

Dugin: Nun, es handelt sich dabei um einen historischen Prozess. Er begann mit der Befreiung von der Katholischen Kirche, danach fand die Befreiung von den Ständen statt, von der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft des Mittelalters, und danach kam es zur Befreiung vom Nationalstaat und von allen Arten der künstlichen kollektiven Identität im 20. Jahrhundert. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus und des Kommunismus folgt nun der nächste Schritt, die Befreiung des Menschen von der Geschlechtsidentität.
Dies stellte den Markstein des Übergangs zu einem neuen Liberalismus dar. Die Genderpoli- tik ist also essenziell, nicht bloß zweitrangig, sie ist etwas, das in der Entwicklungslogik des Liberalismus eingebettet ist. Daher wird der Globalismus notwendiger- und natürlicherweise mit der Gen- derpolitik verbunden. Das ist besonders wichtig, da es sich dabei um einen Teil der Modernisierung der liberalen Gesellschaft selbst handelt.
Und der nächste Punkt besteht im Austausch der menschlichen kollektiven Identität durch die post-humane kollektive Identität. Die politische Agenda von morgen wird bereits heute umgesetzt. Darin besteht die eigentliche Logik der Globalisierung, dass sie sich nicht nur auf die Öffnung der Grenzen beschränkt. Vielmehr stellt die Globalisierung einen sehr profunden und vielschichtigen Prozess dar.

Stimme: Was ist dann so neu an der Idee des »Great Reset«?

Dugin: Neu ist daran die Tatsache, dass die vorhergehenden Phasen Widerstand hervorriefen, verschiedene Arten des Widerstands in den nichtwestlichen Gesellschaften, insbesondere in den nicht allzu sehr westlichen und auch nicht allzu modernen Gesellschaften Russlands und Chinas. Einige Aspekte der konservativen Charakterzüge dieser Gesellschaften wehrten sich gegen die Globalisierung. Und die Verteidigung ihrer
Souveränität machte deutlich, dass die große nukleare Macht Russlands und die große wirtschaftliche Macht Chinas zu Hindernissen für diesen Prozess geworden sind. Gleichzeitig traten Zivilisationen auf die Weltbühne, die sich gegen die Auf- zwingung liberaler, moderner und postmoderner Werte zur Wehr setzten, wir haben es hier also mit einer natürlichen organischen Reaktion der Zivilisation gegen diese ideologische Agenda zu tun. Parallel dazu ereigneten sich einige wirtschaftliche Fehler und strategische Niederlagen in der Geopolitik, so etwa bei der Erschaffung des »Grea- ter-Middle-East«-Projekts und der Bewerbung von Farbrevolutionen in der arabischen Welt, bei denen sich nicht die Erfolge einstellten, die sich die Globalisten erwartet hatten. Wir hatten es also mit einer Kette von Fehlschlägen zu tun, Fehlschlag auf Fehlschlag und der letzte Fehlschlag, war das Auftauchen von Trump.

Stimme: Donald Trump war also aus Sicht der Globalisten ein Fehlschlag?

Dugin: Ja, das war der Aufstand der amerikanischen Gesellschaft, die diese Agenda ablehnte. Damit drückten sie zum Beispiel aus, dass sie bei der alten Version der Moderne, des Liberalismus und der Demokratie bleiben wollten. Sie wiesen diesen Prozess der fortschreitenden Modernisierung und Aktualisierung zurück. Dabei handelte es sich also um eine Art Herausforderung von innen, nicht durch Putin oder den Aufstieg des Populismus in Europa, sondern durch eine Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft selbst. Und all das brachte die Globalisten in eine sehr besondere Position. Sie versuchten ihre Interessen, die auf der Befreiung des Individuums von jeglicher Art der Kollektiven Identität aufbauten, voranzutreiben, sie wollen noch immer die Verwestlichung projizieren, und sie wollten immer stärker modernisieren sowie damit die Zerstörung jeglicher Identität innerhalb des Westens erreichen, aber sie stießen auf so viele Widerstandsnester, dass sie nicht auf normale Weise fortfahren konnten, es handelt sich dabei also um einen Notruf, der erschallte, eben weil es zu einer Anhäufung alternativer Mächte und Akteure in verschiedenen Ebenen kam: Von Zivilisationen, souveränen, ideologischen, kulturellen, geopolitischen, wirtschaftlichen, aber auch politischen Elementen, die eine Front geschaffen haben, die durch Trump, Putin, den erstarkenden Islam, Iran, China und in wirtschaftlicher Hinsicht von der Neuen Seidenstraße, der populistischen Welle in Europa und einer Art Spaltung innerhalb der NATO, hervorgerufen durch die souveräne Politik Erdogans, vertreten wird, alles geriet außer Kontrolle.

»Die Globalisten mussten überall den Platz räumen.«

Dugin: Auf dem Weg zur Globalisierung wurden alle diese Hindernisse immer größer. Das war also eine Katastrophe im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte, beginnend im Jahr 2000, welche zur Beendigung des unipolaren Moments und einer sich immer deutlicher abzeichnenden Niederlage wurde. Die Globalisten mussten überall den Platz räumen, jedes Feldlager aufgeben, und der letzte Schlag wurde ihnen durch Trump versetzt. Das amerikanische Volk hat sich also diesem Kampf gegen die globale Agenda angeschlossen. Jetzt befindet es sich in einer kritischen Position. Wenn sie über den Reset sprechen, bedeutet das eine drastische und gewalttätige Rückkehr zur Fortsetzung ihrer Agenda. Doch ist es keinesfalls so, dass es sich dabei um eine natürliche Entwicklung des Fortschritts handelt, das war vielleicht vor 20 Jahren so, heute müssen sie um jeden Baustein ihrer Strategie kämpfen, weil sie überall auf einen wachsenden Widerstand stoßen. Die Globalisten können also ihre Strategie nicht mehr mit denselben Mitteln und Methoden umsetzen. Und damit meinen sie drei Begriffe: »Building Back Better« (deutsch: »Besser zurückbauen«). Das ist eine Art Parole, ein Schlüsselwort, sie wollen die Welt in die 90er Jahre zurückbauen, bevor die Anti-Globalisierungsbewegung aufkam und sogar noch besser dastehen als damals.

Stimme: Man will also die Zeit zurückdrehen, um Fehler auf dem Weg zur NWO zu korrigieren?

Dugin: Ja, dabei handelt es sich um einen Ruf zu den Waffen, um alle globalistischen Kräfte zu mobilisieren, damit sie die letzte Schlacht an allen Fronten gewinnen können, um überall durchzubrechen. Das erste Ziel besteht darin, Trump zu besiegen. Sie wollen Putin zerstören, Xi Jinping töten, die Regierung im Iran austauschen, Erdogan vergiften, jede Art von Populismus in Europa diskreditieren, den islamischen Widerstand erledigen und alle anti- globalistischen Strömungen in Lateinamerika vernichten! Nicht auf friedliche Art und Weise, sondern durch einen Angriff mit totalitären Mitteln. Der Reset als solcher verfügt also über denselben Inhalt, impliziert aber komplett neue Werkzeuge, um die entsprechende Agenda umzusetzen. Und ich denke, dass diese Mittel offen totalitär sind. Sie versuchen, uns zu zensieren, politischen Druck aufzubauen und Polizeimaßnahmen gegen alle, die auf der anderen Seite stehen, anzustrengen. Was wir jetzt erleben, ist eine Art eschatologischer Kampf, die letzte Schlacht der Globalisierung. Und nun sehen wir, wie sie im Rahmen des Great Reset alle Mittel nutzen, die in einer vergangenen Phase undenkbar gewesen wären.

Die letztgültige Antwort auf die Frage »Was ist der Great Reset?«: Er ist nichts Neues, es ist dieselbe Agenda der Globalisierung, dieselbe Ideologie, es sind dieselben Werte, derselbe Prozess, aber mit ganz neuen Mitteln. Das ist also ganz klar offener Totalitarismus. Zensur, politische Repression, Tötungen, Kämpfe, die Dämonisierung des Feindes, die Bezeichnung aller, die dagegen sind, als Faschisten, Wahnsinnige, Terroristen und ihre Bekämpfung als genau solche. Zuerst sehen sie alle ihre Gegner als Faschisten an, danach beginnen sie, sie zu töten, weil sie Faschisten sind, und niemand untersucht die Vorgänge. Das ist reiner Bolschewismus, so wie in der bolschewistischen Revolution oder der Französischen Revolution. Jeder, der zum Feind der Revolution erklärt wird, muss ausgemerzt werden. Das ist also die Auslöschung, und wir können in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits die erste Phase dieses Great Reset sehen. »Die Globalisten haben die Wahlen verloren? Lasst uns die Wahlen zerstören! Tötet alle Demonstranten! Sehen wir die Millionen von Demonstranten einfach als kleinen Auflauf von Wahnsinnigen und Faschisten an!« Also zerstören sie alle Arten von Realitätsprüfung. Es gibt keine Realitätsprüfung mehr, willkommen im Totalitarismus des Great Reset!

Stimme: In Bezug auf den Zwischenfall am Kapitol in Washington haben Sie von einem »Great Awakening« (»Großes Erwachen«) gesprochen, als Gegenpol zum Great Reset. Was genau meinen Sie damit?

Dugin: Das Great Awakening ist ein Begriff, der spontan von amerikanischen Demonstranten gemeinsam mit Alex Jones und allen anderen verwendet wurde. Das war ein Konzept, das erst vor kurzem geboren wurde, als das Bewusstsein des amerikanischen Volkes über die wahre dämonische Natur der Globalisten größer wurde. Das betrifft zunächst das amerikanische Volk, welches im Irrglauben war, dass alles mehr oder weniger gut lief und die Demokraten wie die Republikaner zwei Flügel derselben liberalen Demokratie repräsentierten. Das Great Awakening bestand für sie in der Entdeckung dessen, was sich hinter der Maske der demokratischen Partei befindet und dass dies etwas ganz anderes war, als sie gedacht hatten, eine Art Staatsstreich der Globalisten, Wahnsinnigen und Terroristen. Sie sind bereit dazu, alle Arten von totalitären Maßnahmen gegen das amerikanische Volk anzuwenden. Das war davor unvorstellbar und unmöglich.

Es begann mit Trump während der vier Jahre seiner Präsidentschaft und gipfelte im Wahlbetrug, der ein deutliches Bild für das Great Awakening hergab. Es besteht im Verständnis der wahren Natur des Reset und der Globalisten. Das amerikanische Volk war im Inneren des amerikanischen Systems verborgen gewesen, und nun gibt es zwei unterschiedliche Dinge, die amerikanische Bevölkerung, die Trumpisten, die normalen Amerikaner, und das globalistische Amerika. Und genau hier verläuft die Trennlinie zwischen dem Great Reset und dem Great Awakening.

Stimme: Hat das »Great Awakening« nur Bedeutung für die amerikanischen Patrioten, oder ebenso für uns?

Dugin: Während es zunächst nur um die amerikanischen Patrioten in der anwachsenden Protestwelle in den Vereinigten Staaten geht, könnten wir die universale Bedeutung des Great Reset mit einer möglichen universalen Bedeutung des Great Awakening vergleichen, denn der Great Reset ist die Zusammenfassung vieler zivilisatorischer Tendenzen, welche bereits in den Jahrhunderten davor vorbereitet worden waren. Er besteht nicht einfach in der bösen Absicht einer Gruppe von Idioten, nein, er besteht in der Anhäufung von negativen Folgen und Abschnitten der Moderne.

Darin liegt die Negation der menschlichen Natur, in der Schöpfung von Werkzeugen, die Schritt für Schritt zu den Herren werden und aufhören, Werkzeuge zu sein. Wenn also die Werkzeuge zu Herren werden ändert das alles, das ist dann der Singularitätsmoment. Diese Entfremdung und dieser Verlust der menschlichen Identität, der Schritt für Schritt erfolgte und mit der religiösen Identität begann, mit der Fortführung des Nominalismus, der vorgab, alle Arten der kollektiven Identität zu zerstören. Jetzt schreiten wir dem Verlust der menschlichen Identität entgegen. Noch ist es erlaubt, Mensch zu sein, gewissermaßen optional. Morgen wird das Menschsein damit gleichgesetzt, Trumpist oder gar Faschist zu sein. Das ist ein sehr ernst zu nehmender Prozess und das ist der Great Reset.
Das Great Awakening muss genauso universal sein wie der Great Reset. Es darf nicht nur eine Reaktion des amerikanischen Volkes sein, das endlich die kulturelle Identität der herrschenden demokratischen Eliten und der Globalisten in ihrem Land begriffen hat, denn wenn der Inhalt des Great Reset so reich an Bedeutung ist, wenn in ihm das, was HeideggerSeinsgeschichte nannte, eingeschrieben ist und das Schicksal der Geschichte, dann muss das Great Awakening eine Alternative dazu sein.

Herr Dugin, wir bedanken uns für das informative Gespräch.