Putin und die Philosophie der Komplexität
Haupt-Reiter

Moderator: Es gibt Weltführer, die von allen gesehen und gehört werden. Und es gibt solche, die man nicht nur sieht und hört, sondern deren Reden man sich immer wieder anschaut und anhört. Wladimir Putin gehört zu den wenigen solcher Art. In der vergangenen Woche fand eine seiner programmatischen Reden statt, die intensiv angesehen, angehört, kommentiert wurde – und im Westen, ohne Hemmungen, sogar gefürchtet wurde. Dennoch: Was würden Sie als das Wichtigste aus der Valdai-Rede des russischen Präsidenten hervorheben?
Alexander Dugin: Wissen Sie, einerseits unterschied sich das Gesagte grundsätzlich nicht von seinen bisherigen Auftritten in Valdai oder auf anderen Plattformen. Aber wenn man die Abfolge seiner programmatischen Reden verfolgt, sieht man, wie unser Präsident Schritt für Schritt eine vollständige Philosophie entwickelt, die ein Gegenmodell zum westlichen globalistischen Modell darstellt. Es handelt sich nicht mehr nur um Bemerkungen oder taktische Stellungnahmen. Deshalb müssen Trumps Reden nicht noch einmal nachgelesen werden, Putins aber schon, denn jede ist wie eine weitere Folge einer Serie, die besonders verständlich ist, wenn man sich an die vorherigen erinnert.
Trumps Auftritte sind wie Clips, Memes: man kann sie losgelöst von der amerikanischen Geschichte und sogar von Trump selbst betrachten. Er sagt etwas Lustiges, tanzt, springt, zwinkert, droht, macht Angst, nimmt es dann wieder zurück. Das ist ein kurzfristiges Format – klein, inkohärent, auffällig, manchmal bedrohlich, aber widersprüchlich zu dem, was eine Sekunde zuvor gesagt wurde. Putin ist das Gegenteil: ein Weltführer, der nach und nach seine Philosophie entfaltet.
In dieser Valdai-Rede setzte er die Erläuterung der Multipolarität fort, von der er schon lange spricht, aber immer häufiger, konkreter und tiefer. Es ist die Entfaltung des Verständnisses von Multipolarität, die nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern auch im Bewusstsein des Präsidenten wiederauflebt. Warum Multipolarität? Weil es etwas Neues ist. Keine bipolare Welt, keine unipolare Welt, kein westfälisches System der Nationalstaaten, in dem alle angeblich souverän sind, tatsächlich aber nicht. Nur große Zivilisationsstaaten können in unserer Welt wirklich souverän sein, und das wird zunehmend klar. Ursprünglich war Multipolarität ein Slogan, ein Meme, das zu nichts verpflichtete. Doch heute, wie man durch zwei Punkte eine Linie zieht, bewegt sich das geopolitische Bewusstsein und das Weltbild des Präsidenten genau entlang dieser Linie. Immer deutlicher umreißt er das Modell einer multipolaren Welt, in der die Pole Zivilisationsstaaten sind. Und es wird immer klarer, warum die multipolare Welt mit nichts anderem vergleichbar ist. Der einzige Vergleich ist die Struktur der Menschheit vor dem Zeitalter der großen geographischen Entdeckungen: ganze Zivilisationsstaaten, das islamische Kalifat, die indische Zivilisation, das chinesische Kaiserreich, afrikanische Gesellschaften, das westeuropäische und das russisch-byzantinische Imperium. Vor dem Kolonialismus existierte eine echte Multipolarität, deren Träger Imperien, Zivilisationsstaaten oder, wie man heute sagt, Makrostaaten waren. Putin zeichnet diesen Übergang – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis.
Beim aktuellen Valdai-Forum zieht er Bilanz: Was ist gelungen, was nicht, wo gibt es Hindernisse, wo Durchbrüche? Mit Trump gab es einen solchen Durchbruch, obwohl die Anhänger der Unipolarität ihn sofort korrigieren. MAGA erkannte ursprünglich die Multipolarität an, aber die Neokonservativen üben Druck auf Trump aus, um ihn von dieser Position abzubringen. Es ist ein ständiger, gewaltiger Prozess des Übergangs zur Multipolarität, der alle Regionen betrifft: innerhalb Russlands, an den Grenzen, im Pazifik, im Nahen Osten, in Afrika, Lateinamerika. In den USA und Europa tobt ein regelrechter Bürgerkrieg zwischen Konservativen und liberalen Globalisten, die der Unipolarität verpflichtet sind – Politikern, die nichts verkörpern außer dem wilden, sterbenden Willen, das unipolare Regime und die Ideologie aufrechtzuerhalten. Das alles analysiert Putin.
Die Menschen beginnen zu begreifen: Es handelt sich nicht um ein Meme, sondern um eine Anforderung, der Bildung, Kultur, Politik, Wirtschaft angepasst werden müssen. Wir müssen aktiv, proaktiv und nicht reaktiv am Aufbau einer multipolaren Welt mitwirken. Dafür muss jeder erkennen, was das überhaupt ist – ein ideologischer Trend, langfristig, grundlegend, der alles weitere erklärt. Es ist keine Neuigkeit mehr, sondern eine Vertiefung des Themas. Neu ist meiner Meinung nach die Betonung auf der Komplexitätsphilosophie von Edgar Morin, einem französischen Denker, der die Theorie der Komplexität entwickelt hat. Putin erwähnte mehrfach nichtlineare Prozesse in der neuen Welt und verglich sie mit der Quantenmechanik. Nichtlineare Prozesse, Quantenmechanik – das ist Vernetzung, bei der jede noch so kleine Veränderung auf Mikroebene, vom Blogger mit iPhone bis zum Individuum, globale makroökonomische Prozesse beeinflusst. Das ist keine lineare Mechanik.
Um diese Welt zu verstehen, Diplomatie zu gestalten, mit den Polen zu interagieren, die Widersprüche des Westens zu durchdringen – gespalten in Europa und die USA – ist neues Denken erforderlich. Diplomatie verlangt das Eintreten in die Gesellschaft, Religion und Kultur jedes Landes und jeder Zivilisation. Das verlangt von den Diplomaten des MGIMO – wo ich die Theorie der multipolaren Welt und der Zivilisationen lehre – eine völlige Umstrukturierung des Bewusstseins. Das betrifft die Wirtschaft, Industrie, das Militärische, den Krieg – der jetzt nichtlinear ist, wo Drohnen die klassischen Parameter des industriellen Krieges obsolet machen. Die Komplexitätsphilosophie ist laut Putin die Grundlage der neuen Diplomatie. Es ist ein Aufruf, von einer vereinfachten Sicht auf die Realität abzulassen.
Die moderne Welt mit ihrer Multipolarität ist ein komplexes System. Lassen wir alte Stereotype hinter uns, projizieren wir keine Klischees der Vergangenheit auf das Neue, beschäftigen wir uns mit Quantenmechanik, studieren wir Zivilisationen, Religionen, Theologien, die heute wieder die Prozesse bestimmen. Es ist eine Einladung zur Bewusstseinsveränderung – des Staates als Ganzes, besonders der denkenden Schichten. Unser Denken ist ein Brei aus sowjetischen, vergessenen liberalen Elementen – am Rande der Katastrophe. Wenn wir die Komplexität der Realität, in der wir leben, handeln, Entscheidungen treffen und von der wir abhängen, nicht begreifen, endet das schlecht. Im Grunde hat Putin zur Philosophie aufgerufen. Eine Großmacht braucht eine große Philosophie. Ohne sie ist sie ein Golem, ein technischer Roboter, ferngesteuert von fremden Händen. Die Welt wird von denen regiert, die denken. Es gibt keine Herrscher, die Dummköpfe sind – wenn doch, dann steht jemand anderes dahinter. Die Welt wird von Ideen regiert – falschen oder wahren, gerechten oder grausamen, menschlichen oder unmenschlichen. Und das ist, wie mir scheint, einer der zentralen Schlussfolgerungen aus Putins Valdai-Rede.
Moderator: Sie haben in 15 Minuten eine ausführliche, gehaltvolle und umfassende Analyse der Rede, ihrer Bedeutung und ihres Stellenwerts geliefert. Aber wenn man sich die Überschriften der westlichen Presse anschaut, steht da nur eines: Russland droht mit Eskalation. In kleiner Schrift, bei den seriöseren Medien, wird hinzugefügt: im Falle einer Militarisierung Europas, des Westens, der USA, bei einer Aufrüstung. Aber in allen Überschriften: Russland droht uns mit der Faust. Ihr Vergleich ist treffend: zuerst Philosophie, dann Clips für soziale Netzwerke. Aber was ist für solch eine kurze Aufmerksamkeitsspanne des Westens, Europas, der USA, wo es doch um etwas Substanzielles und Ernsthaftes gehen sollte, angebracht? Oder ist doch die Taktik von Dmitri Anatoljewitsch Medwedew effektiver, der so richtig austeilt und worauf der US-Präsident gerne eingeht und auf Troll-Provokationen hereinfällt?
Alexander Dugin: Ich denke, genau damit beschäftigt sich Dmitri Anatoljewitsch Medwedew. Jeder hat seine Aufgabe. Wladimir Putin entfaltet eine ernsthafte, durchdachte Philosophie. Die Interpretation des Westens ist Phänomenologie. Ein Mensch oder eine Gesellschaft, eine Zivilisation, sieht in der Welt die Spiegelung ihrer eigenen Vorstellungen. Auf Englisch heißt das „reading“, auf Französisch „grille de lecture“, also Interpretationsraster. Sagt ein Terrorist irgendetwas – „Mama“ oder „Miau“ –, werden wir immer ein terroristisches Signal hören. Der Mensch sieht seine eigenen Spiegelbilder, und es ist unmöglich, ihn umzustimmen – das ist die Kraft des Bewusstseins. Europa sieht Russland durch dieses Prisma als Feind und deutet jedes Wort Putins entsprechend, alles andere wird ignoriert.
In Putins Rede, ehrlich gesagt, habe ich das Thema der Eskalation gar nicht bemerkt. Putin sprach ruhig und gelassen über den Schutz von Interessen und betonte, dass wir mehr gemeinsam mit Trump haben als mit den europäischen Globalisten. Aber sie heben das hervor, was ihnen passt: Putin droht. Die Annäherung an Amerika wird nicht erwähnt. Sie sind selektiv: Sie wollen eine Bedrohung sehen, bereiten sich auf den Krieg mit Russland vor, wollen ihn beginnen, indem sie uns der Provokation beschuldigen und jeden Vorwand nutzen. Hätte Putin geschwiegen, wäre sein Schweigen als Vorbereitung auf eine Eskalation ausgelegt worden. Das ist unheilbar.
Was Dmitri Anatoljewitsch Medwedew betrifft: Er hat den Stil der kurzen, scharfen, präzisen Bemerkungen meisterhaft gelernt. Das ist für das westliche Bewusstsein verständlich: Sie sagen „Wir werden euch vernichten“, und er antwortet „Versucht es – wir werden euch zuerst treffen.“ Und das wirkt, denn auf ihrer Wahrnehmungsebene ist es ein Austausch von Memes. Meme gegen Meme. Trump: „Russischer Papiertiger.“ Medwedew: „Dieser Tiger wedelt mit dem Schwanz, und eine Atombombe kann auf euren Kopf fallen.“ Zehn sticht Neun – Medwedew gewinnt. Es erinnert an das Kartenspiel Dummkopf, aber nach ihren Regeln – Poker. Sie ignorieren Putins Präferenz für das Kartenspiel Präferenz. Dmitri Anatoljewitsch, so scheint es mir, bereitet die Zukunft vor. Er zeigt, dass sie nicht weniger patriotisch, sondern nur härter sein wird. Wenn unser Trend anhält, wird er sich verstärken. Medwedew formt das Bild unseres Landes – anschaulich, schlagkräftig, kurz, memetisch. Der Sinn seiner Beiträge ist die Vorbereitung auf eine offene Linie. Wladimir Putin ist sanft, formuliert bewusst umschreibend. Aber es braucht den guten und den bösen Ermittler. Putin ist eindeutig der Gute, Medwedew der Böse. Gemeinsam bringen sie die Täter zum Reden, lösen Fälle auf, ziehen Linien, halten Ordnung. Sie ergänzen sich ideal – beides ist notwendig. Ich bin überzeugt, Dmitri Anatoljewitsch weiß, was er tut, so scharf und manchmal undiplomatisch es auch ist. Aber wer mit Wölfen lebt, muss mit den Wölfen heulen. Das ist nach außen notwendig, damit niemand vergisst, mit wem er es zu tun hat. Er ist einer unserer populärsten Blogger: Die Leute lesen ihn, und alles wird klar. Werden sie sich mit der Komplexitätsphilosophie von Edgar Morin oder der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, mit Multipolarität beschäftigen? Einige werden zuhören. Aber für die anderen, die sich nicht damit beschäftigen wollen, offenbart der Blog von Dmitri Anatoljewitsch Medwedew die Wahrheit. Für den einfachen Menschen wird alles verständlich: Wir in Russland werden über allem stehen, bis zum Ende: „Ergib dich, Feind, bleib liegen!“
Moderator: Die Wahlergebnisse werden so oder so das Leben dieser Länder und unsere Beziehungen zu ihnen beeinflussen. Fangen wir mit Georgien an, wo die Regierungspartei „Georgischer Traum“ bei den Kommunalwahlen laut offizieller Statistik über 80 % Unterstützung erhalten hat. Vielleicht ist das eine naive, äußere oder sogar primitive Frage. In letzter Zeit, vor allem nach den Wahlen, wird die Lage von Unruhen begleitet. Einige sprechen von Protesten, andere von Demonstrationen. Kurz gesagt, die Menschen gehen mit bekannten blau-gelben, blau-weißen Fahnen auf die Straße. Diese Schemata funktionieren – sie wurden vor 20, 30, 40 Jahren entwickelt, um Länder mit unerwünschten Regimes ins Wanken zu bringen. Westliche Schemata, die in verschiedenen Ländern angewendet wurden, aber in letzter Zeit an Wirksamkeit verloren haben. Oder täusche ich mich und sehe die Dinge zu naiv?
Alexander Dugin: Zunächst einmal haben Sie recht: Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft zur Machtergreifung oder zum Sturz unerwünschter Regimes ist eine Taktik, die seit Jahrzehnten mit unterschiedlichem Erfolg funktioniert. Es ist eine mächtige Waffe neuer sozialer und politischer Technologien. Es geht weniger darum, echte Oppositionsstrukturen zu schaffen, sondern darum, freie Elemente der Bevölkerung zu mobilisieren: Verrückte, Straßenprediger, Menschen, die ihre Orientierung gewechselt haben. Es sind merkuriale Fragmente, verstreute Atome der Gesellschaft, zu nichts zu gebrauchen, unfähig, eine politische Position zu vertreten. Davon gibt es immer mehr, weil die westliche Kultur das Bewusstsein erschüttert. Diese heimatlosen, schwachsinnigen Massen, chaotische Horden, werden zu einem ernsthaften Instrument der großen Politik. Sie bringen die Lage ins Wanken, destabilisieren die Gesellschaft. Und dann treten auf ihren Schultern die eigentlichen Kräfte auf, übernehmen die Macht und geben sie nicht mehr ab.
Danach setzt ein anderes Regime ein, diese Massen zerstreuen sich – sie fordern keine Beteiligung an der Macht, sie sind niemand. Es ist Abfall, Abschaum der Großstädte, Liberale nicht im ideologischen Sinne, sondern im Sinne von: Jeder ist sich selbst der Nächste. Diese chaotischen Atome lassen sich leicht zur Zerstörung mobilisieren. Aber sie fordern nichts. Auf ihren Schultern kommen liberale Marionetten an die Macht, die eine Diktatur errichten. So war es auf dem Maidan, und so war es in erheblichem Maße auch in Frankreich. Sobald Liberale an die Macht kommen, geben sie sie nicht mehr ab. Mit den Menschen, die sie als Rammbock zur Beseitigung legitimer, mehr oder weniger souveräner Regierungen mobilisieren, gehen sie später nicht mehr um – sie werden wieder entlassen. In Georgien hat das mehrmals funktioniert – dort gab es eine der ersten Farbrevolutionen.
Moderator: Aber das war vor über zwanzig Jahren.
Alexander Dugin: Ja, vor zwanzig Jahren hat das funktioniert und brachte den echten Diktator-Nazi Saakaschwili an die Macht. Aber Georgien scheint eine Immunität gegen diese Farbrevolutionen entwickelt zu haben und lässt sich nicht mehr darauf ein. Die souveräne Regierung des „Georgischen Traums“, anfangs prowestlich, mit einem künstlichen, europäischen Entwicklungsweg, schwach und konstruiert, aber im Vergleich zu diesem Toben unkontrollierter Elemente – Provokateure, Terroristen, Nazis, größtenteils eine Masse georgischer Schizophrener – ist sie stärker geworden. Sie hat Erfahrung gesammelt und gibt nicht mehr so leicht nach.
Das ist eine gefährliche Sache – die Philosophie der Komplexität. Nutzlose Randexistenzen können das Schicksal eines Landes oder der Geopolitik wenden. Mikroprozesse werden aktiv ausgenutzt. Übrigens, in Amerika besteht Antifa aus solchen Leuten. Kürzlich in den USA verboten, tarnen sie sich als „antifaschistisch“, aber es ist eine ultraterroristische Organisation, die unerwünschte Liberale zu Faschisten erklärt, physisch angreift, verfolgt, denunziert, Wikipedia ändert und sogar tötet, wie es bei Charlie Kirk geschehen ist. Das ist gefährlich, weil diese Menschen psychisch instabil sind und leicht zu physischer Gewalt greifen.
Aber Georgien hat eine Immunität entwickelt. Es sind Antikörper entstanden, der „Georgische Traum“ ist stärker geworden. Sie haben gelernt, das Land zu regieren, ohne abrupte Bewegungen zu machen, ohne auf Provokationen hereinzufallen, indem sie der Idee der Bewahrung der georgischen Souveränität folgen. Sie haben die richtigen Schlüssel gefunden: Wo man stoppt, wo man Härte zeigt, wo man gewähren lässt, wo man versetzt. Sie spielen mit diesem gefährlichen Phänomen aus einer Position der Stärke und Effizienz. Sie haben den Algorithmus verstanden, beherrschen ihn. Nach Surabischwili und den vorherigen Wahlen schien alles klar. Aber die Liberalen, beflügelt durch die manipulierten Wahlen in Moldawien, wo die Diktatur von Sandu alles verboten hat, was die Macht herausfordert – und ohne ernsthaften Widerstand –, beschlossen, Georgien erneut zu destabilisieren. Diesmal, denke ich, wird es nicht gelingen, aber man darf diese Strategie nicht unterschätzen. Sie funktioniert erstaunlich gut: Je mehr schwache Elemente es in der Gesellschaft gibt, desto effektiver ist sie.
Die westliche Kultur fördert ihre Vermehrung, illegale Migranten – Menschen, die nicht in der Gesellschaft verwurzelt sind, freie Atome, die leicht einen Quantensprung vom Außenseiter zur destruktiven Kraft machen können. Das ist die Steuerung von Chaos – eine Strategie, die ernsthafte Weltmächte übernommen haben. Ich denke, die Proteste in Georgien werden zu nichts führen. Aber diese ständige Bedrohung wird in jeder Gesellschaft, die nach Souveränität strebt, immer wieder aufflammen.
Moderator: Am Horizont erscheint Tschechien, wo Babiš, der ehemalige Führer, zurückkehrt und als Bote des Wandels gilt. Auch Tschechien könnte sich Ungarn und der Slowakei anschließen, als kleiner, aber selbstbewusster Block von Ländern, die in erster Linie ihre eigenen Interessen vertreten und europäische, eurozentrische Belange an zweite Stelle setzen. Was sagen Sie dazu? Zu den tschechischen Wahlen, bei denen ein absolut nicht pro-russischer Mensch an die Macht kommt, dessen Politik sich aber von der in den letzten Jahren von Tschechien verfolgten, Russland feindlich gesinnten Linie unterscheidet.
Alexander Dugin: Es geht nicht darum, für oder gegen Russland zu sein – das ist ein zweitrangiger Aspekt. Bemerkenswert ist, dass auch Polen immer mehr zur Souveränität neigt. Ungarn und die Slowakei wählen vorrangig den Weg der Souveränität und befreien sich vom Druck globalistischer Kräfte, die diese abschaffen wollen. Ihre Logik ist pragmatisch und basiert auf nationalen Interessen: Sie gestalten ihre Außenpolitik – auch gegenüber Russland – nach dem Prinzip: Ungarn an erster Stelle, die Slowakei an erster Stelle, und nicht die Europäische Union.
Orbán und Fico sind keine pro-russischen Politiker. Sie sind Souveränisten, die konsequent nationale Interessen verfolgen. Ein ähnlicher Souveränist ist nun auch in Tschechien an die Macht gekommen. Selbst das uns gegenüber feindliche Polen bewegt sich in diese Richtung.
Ich empfehle die Monographie eines äußerst brillanten zeitgenössischen Denkers, Alexander Bowdunow, die dem Projekt „Großes Osteuropa“ gewidmet ist – seine Dissertation, die in eine wissenschaftliche Arbeit umgewandelt wurde. Vor einigen Jahren, als diese Prozesse noch nicht sichtbar waren, zeigte er auf, dass Osteuropa ein eigenständiges geopolitisches Gebilde ist, das nicht mit Westeuropa identisch ist. Das betrifft alle Länder der Region: Rumänien, Bulgarien, Polen, Ungarn, die Slowakei, Tschechien und sogar Österreich.
Das Projekt Großes Osteuropa, wie es von Alexander Bowdunow beschrieben wurde, nimmt eine Welle populistischer Revolutionen vorweg, durch die Souveränisten an die Macht kommen werden (auf demokratischem oder weniger demokratischem Weg) – und das wird in Osteuropa schneller geschehen als in Westeuropa. Diese Region wird sich zu einem eigenständigen Pol entwickeln: einerseits europäisch, nahe an Frankreich, Deutschland, England, Spanien, Italien, andererseits – uns nahe. Es ist eine Zwischenregion, eine Art Brücke. Die Zone des Großen Osteuropa könnte zu einem wichtigen Hebel in der großen europäischen und eurasischen Geopolitik werden.
Kleine Länder, die diese strategische Linie eingeschlagen haben, die Bovdunov als Theorie ausgelegt hat, sehen nun, wie sich die Szenarien verwirklichen, unter anderem mit dem Aufstieg von Babiš. Souveränisten in Osteuropa werden die Region nach und nach in ein eigenständiges zivilisatorisches Gebilde verwandeln.
In meinem Werk „Noomachie“ sind zwei Bände Osteuropa gewidmet – dem slawischen und dem nicht-slawischen Teil. Obwohl ich die Geopolitik nicht direkt behandelt habe, habe ich die kulturelle Eigenständigkeit der Völker untersucht. Es ist eine einzigartige Welt. Serbien ist ein weiteres anschauliches Beispiel für Souveränismus.
Mit der Zeit, wenn man bedenkt, dass Souveränisten durchaus eine kritische Haltung uns gegenüber bewahren können, wird dieses Bild dominieren. Es geht nicht um das Verhältnis zu Russland, sondern um das Verhältnis der polnischen Führung zum polnischen Volk, der tschechischen zur tschechischen Bevölkerung, der serbischen zur serbischen. Es geht um Souveränität.
Die Welle des Souveränismus in Osteuropa wird zur Bildung einer eigenständigen Gemeinschaft führen. Das liegt in unserem Interesse. Aber das bedeutet nicht, dass sie für uns arbeiten oder Russophil sein müssen. Ihre Logik ist anders: Sie streben nach Unabhängigkeit und wollen Politik ausschließlich im Interesse ihrer eigenen Staaten betreiben. Und dafür haben sie stichhaltige Gründe.
Ich glaube, populistische, volksnahe Kräfte werden in Osteuropa schneller siegen als in Westeuropa. In Deutschland gewinnt die AfD überall in der ehemaligen DDR und in Westpreußen, wo der liberale Totalitarismus schwächer und die patriotischen Kräfte stärker sind. Dieser Teil des vereinigten Deutschlands befindet sich ebenfalls an der Grenze Osteuropas (Preußen kann man zu Osteuropa oder Mitteleuropa zählen).
Das Projekt ist äußerst interessant. Was in Osteuropa geschieht, ist kein zufälliges Aufflackern oder Erfolg politischer Technologien, sondern eine anhaltende Tendenz. Es ist die Logik des Großen Osteuropas, die jetzt reale geopolitische Konturen annimmt.